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petra koller stern 1
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Zwischen Mutterliebe und
Erziehungsburnout

Wohin nach der Schule?

Diesmal möchte ich über eine brandaktuelle Entwicklung aus unserem Leben schreiben: Patrik hat aktuell leider bereits sein letztes Schuljahr erreicht. Warum das so sein muss, werde ich euch ausführlich in einem anderen Blog Beitrag erläutern. Jetzt bedeutet das bevorstehende Schulende Patriks, dass wir bereits seit einiger Zeit damit beschäftigt sind, zu evaluieren wo er sich nach der Schule noch weitere Fertigkeiten aneignen könnte. Nach längerem Suchen haben wir gsd einen Standort gefunden, der für Patrik geeignet scheint und er konnte diese Woche ein Praktikum dort absolvieren.

Schlechter Zeitpunkt

Tatsächlich hätte er noch ein paar Schuljahre brauchen können, um noch weitere Kompetenzen zu erlernen und bestehende vertiefen zu können. Jedes Kind benötigt um zu Lernen unterschiedlich viel oder wenig Zeit. Außerdem hatte er aufgrund der ständigen Ausnahmesituationen noch nicht genügend Zeit herauszufinden was ihm Freude macht oder wofür er Talente hätte. Aber das starre Schulsystem läßt hier leider keinen Spielraum für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern zu. Die Entscheidung über die spätere Berufswahl ist schon für Kinder mit sehr gutem Abschluss einer schulischen Karriere äußerst schwierig, aufgrund Patriks kognitiver Einschränkung und seiner ausgeprägten Ängste in vielerlei Hinsicht sind die Möglichkeiten allerdings besonders dünn gesäht. 

Patrik weiß bereits seit Anfang dieses Schuljahres, dass dies sein letztes Schuljahr sein wird und er war, wie vor jedem bevorstehenden Einrichtungswechsel, grundsätzlich dagegen und immens verunsichert. Im Grunde haben die meisten Menschen zumindest einen Grundrespekt vor Neuem. Das liegt schon in unseren Genen verankert, dass die Sinne sich in so einer Situation neu sortieren und der Adrenalinspiegel hochfährt, um bei Kontakt mit Neuem jedenfalls rechtzeitig reagieren und sich schützen zu können. Der Mensch ist dann quasi im Verteidigungsmodus und jedenfalls auf alles gefasst, wohingehend Routinen für den Geist ein Segen sind, da sie die eigenen Ressourcen schonen – hier kann der Körper beruhigt auf “Autopilot” schalten. Das sind wie gesagt für alle Menschen ganz normale Phänomene, allerdings ist dies bei Patrik vorallem durch die vielen negativen Erlebnisse der Vergangenheit speziell ausgeprägt.

Etappenziele

Daher bereite ich Patty auf Neues immer sehr langfristig und in kleinen Schritten vor. Er weiß wie gesagt schon seit September über das Schulende Bescheid, da er aber ein sehr abstraktes Zeitgefühl hat, haben wir sein letztes Schuljahr in kleine “Häppchen” mit Etappenzielen eingeteilt. Etappenziele sind z.B. die Ferien und Schulveranstaltungen. Wir haben also als erste Etappenziele die Herbstferien und das Herbstpraktikum angesetzt. Dies hätte Anfang November stattfinden sollen, musste aufgrund Covid-19-Maßnahmen allerdings verschoben werden. Das nächste Etappenziel wäre die sogenannte JobFit-Präsentation kurz vor Weihnachten gewesen. Bei selbiger stellen die Jugendlichen den Berufsvorbereitungslehrgang JobFit in einer Präsentation für Interessierte vor. Patrik war hierauf sehr gut vorbereitet und freute sich darauf. Doch auch das konnte aufgrund der Pandemie und den damit verbundenen Vorschriften nicht wie geplant stattfinden. Nächstes Ziel: Weihnachten und zwei Wochen Ferien. DAS hat stattgefunden 😉

Allerdings wußte Patrik, dass er das verschobene Herbstpraktikum gleich nach den Weihnachtsferien antreten würde. Nun waren wir also in den Ferien damit beschäftigt die Angst vor dem Neuen und vor allem vor dem Unbekannten zu bewältigen. Obwohl wir ein Vorstellungsgespräch bei Jugend am Werk hatten, von dem er eine Vorstellung haben musste wie es dort aussah, war er sehr nervös. Das Gespräch war leider aufgrund der Verschiebung schon viel zu lange her und die Erinnerung daran bereits wieder verblaßt. Ich versuchte ihm Sicherheit zu geben, indem ich täglich die Fakten, die wir kannten, wiederholte. Wir sprachen daher immer wieder über die Gesamtdauer des Praktikums, den täglichen Zeitrahmen, die Möglichkeiten innerhalb der Werkstätte und den Grund für das Praktikum. Ansonsten verbrachten wir die Weihnachtsferien ausschließlich mit Sachen, die Patrik gut taten und die er geniessen konnte.

Zugegebenermaßen war auch ich ziemlich nervös, je näher der erste Tag rückte. In meinem Bewusstsein stiegen die Erinnerungen an die vergangenen Einrichtungswechsel und Patriks Verhalten in solchen Situationen auf. Wenn die Angst sehr groß in ihm war, war er kaum Herr über seine Gefühle und daher auch nicht empfänglich für Argumente meinerseits. Um unangenehmen Situationen entrinnen zu können, wurde er oftmals sogar krank und begann zu fiebern. Die Stimmung am letzten Wochenende vor dem Praktikumsstart war daher, trotz unserer Wohlfühl-Routinen, sehr angespannt und fand ihren Höhepunkt als wir gemeinsam seinen Gurgeltest machen mussten.

Bis dato wurde er immer in der Schule getestet und soweit ich von den Betreuern wusste, funktionierte das sehr gut. Allerdings hatte er bis dato noch nie gegurgelt und ihm war bewusst, dass der Test bedeutete, dass der Praktikumsstart nun kurz bevor stand. Er war daher sehr unkooperativ und ich, aufgrund meiner steigenden Nervosität, leider nicht besonders geduldig – keine gute Kombi. Zu allem Überfluss gab es eine technische Unterbrechung auf “alles gurgelt” und ich konnte den ersten Test technisch nicht abschliessen. Patrik musste ein zweites Mal gurgeln. Das sah er überhaupt nicht ein. Er brüllte herum und flüchtete in sein Zimmer. Nach einem absolut emotionalen und unpädagogischen Wortgefecht zwischen uns, brachte ich ihn doch dazu erneut zu gurgeln und das negative Testergebnis wurde mir gsd auch am Ende des Tages übermittelt. Wieder war eine Hürde geschafft. Den Sonntag verbrachten wir dann wieder größtenteils mit Wohlfühl-Routinen und ich versuchte mein eskalierendes Gedankenkino in Zaum zu halten. Patrik flüchtete sich in Videospiele.

Praktikumsstart

Dann war es soweit: Praktikumsstart. Ich bekam ihn erstmal kaum aus dem Bett, da seine erste Vermeidungsstrategie für Ungewolltes immer mal der Versuch ist einfach im Bett zu bleiben. Er zog sich die Decke über den Kopf, simulierte Schlafgeräusche und ignorierte mich. Nach einer Weile schaffte ich es dennoch ihn aus dem Bett und zum Anziehen zu bringen. Frühstück lässt er grundsätzlich aus, da er nur Essen kann, wenn er sich sicher fühlt und ausgeglichen ist. Das gibt’s daher immer nur am Wochenende. Zähne putzen haben wir auch ausgelassen – sicherheitshalber, da er zu Brechreiz neigt und ich wollte einfach nichts riskieren. Denn wenn er mal beginnt sich zu Übergeben, dann kann das dauern …

Sein nächster Schritt in Sachen Verhinderung von Ungewolltem ist sich auf der Toilette einzusperren. Ich versuchte ruhig zu bleiben, nicht zu drängeln, keinen Druck aufzubauen, obwohl der Druck in mir bei jedem Blick zur Uhr größer wurde. Ich wollte keinesfalls am ersten Tag unpünktlich sein. Wir wollten ja einen guten Eindruck hinterlassen und zeigen, dass wir an der Stelle interessiert sind. Hier helfen für gewöhnlich nur meine Strategien: Atmen, Meditieren, Mantras sprechen. Aber ehrlich gesagt hilft das auch nur bedingt und nicht immer. Aber es wird immer besser.

Irgendwann kam er gsd wieder aus der Toilette heraus, versuchte aber anstelle sich die Schuhe anzuziehen, sich mit aller Kraft innerhalb des Türrahmens zu verspreitzen, um mir zu zeigen, dass er das Haus keinesfalls verlassen wollte. Mittlerweile hat er eine immense Kraft, daher wäre es sinnlos gewesen zu versuchen ihn vom Türstock zu lösen. Ich versuchte daher ihn an die Argumente zu erinnern, warum das Praktikum für ihn wichtig war, warum es der ideale Platz für ihn und ideal für seine Zukunft wäre.

Patrik nach dem ersten Praktikumstag mit seiner  Luna - ziemlich erledigt ziemlich beste Freunde
Patrik nach dem ersten Praktikumstag mit seiner Luna – ziemlich erledigt, ziemlich beste Freunde

Er ließ sich überreden, wollte aber nochmal bestätigt haben, dass es NUR für eine Woche wäre. Ich versicherte ihm, dass er nach dem Praktikum wieder für eine Zeit zur Schule gehen konnte und siehe da – er zog sich Schuhe und Jacke an und wir konnten endlich los. Heureka.

Angekommen in der Werkstätte führte ich ihn in die Räume der Einsteigergruppe, beantwortete noch ein paar Fragen des Betreuers und fuhr dann schweißgebadet wieder nachhause in mein Home-Office. Gsd habe ich Gleitzeit, aber ich hatte dennoch ganz schön viel Zeit verloren und diese ersten fast drei Stunden des Tages hatten mich ganz schön mitgenommen.

Als Patrik mit dem Fahrtendienst nachhause kam, bat er mich erstmal flehend, dass ich dem Betreuer sagen musste, dass er nichts essen wolle und er daher auch nicht für das Essen zahlen wolle. Als ich das versprach, war er beruhigt. Er verbrachte den restlichen Nachmittag mit Essen und Videospielen.

Die restlichen Tage verliefen überraschend gut. Die morgentliche Routine funktionierte sehr gut und er versuchte fortan nie mehr zuhause bleiben zu können. Ich erklärte den Betreuern, dass Patrik grundsätzlich sehr wenig sprach und kaum in Gesellschaft essen wollte und dass er leider immer sehr lange brauchte, um anzukommen. Auch wenn die Betreuer Sorge hatten, wie er das aushalten konnte täglich bis 15h nichts zu Essen und nichts zu Trinken, akzeptierten sie dies und gingen sehr bemüht auf ihn ein. Ab und an erkundigte Patrik sich während der Woche wie lange das Praktikum noch stattfinden müsste, aber ich spürte keinerlei Abwehr von seiner Seite. 

Ende gut – Alles gut

Am Freitag endete das Praktikum dann mit einem Abschlussgespräch zwischen Patrik, den Betreuern und mir. Als der Betreuer Patrik fragte, wie es ihm gefallen hatte, antwortete dieser per Handzeichen mit “Daumen hoch” und gegen Ende des Gesprächs erzählte er sogar kurz etwas. DAS war ein enormer Fortschritt! Die Betreuer erzählten ein bisschen wie die Woche gelaufen war und wir einigten uns abschließend darauf, dass Patrik das Frühlingspraktikum im März auch wieder bei ihnen absolvieren würde. Wenn das Frühlingspraktikum erfolgreich läuft, kann Patty dann ab Herbst fix in der Einsteigergruppe von Jugend am Werk starten. Nachdem wir die Praktikumsbeurteilung erhalten hatten, fuhren wir gelöst und erleichtert nachhause.

Patrik und ich vereinbarten daher die neuen, folgenden Etappenziele: nach 8 Wochen Schule Frühlingspraktikum, nach weiteren 8 Wochen dann die Trainingswoche mit der Schule, wieder 8 Wochen danach Sommerurlaub mit Patriks Freundin Iris und etwa 8 Wochen danach ist der fixe Start in der Einsteigergruppe geplant.

Ich kann gar nicht in Worte fassen wie glücklich und erleichtert ich bin! Endlich haben wir einen soliden und vorallem für Patrik idealen Plan für die Zukunft. In der Einsteigergruppe hat Patty die Möglichkeit ganze 4 Jahre seine Kompetenzen zu erweitern und herauszufinden wo seine Interessen und Talente liegen. Die Jugendlichen in dieser Gruppe sind durchwegs in Patriks Alter, somit ist auch das Feld in dem er dann täglich ist, ideal. Der Standort ist von unserem Zuhause aus öffentlich gut erreichbar, daher hat mein PatMan die Chance per Mobilitätstraining zu lernen selbständig zur Werkstätte und wieder nachhause zu fahren. Das ist spitze, da Patty die Fahrtendienstfahrten nicht mag.  Alles in Allem also ein Meilenstein in Patriks Laufbahn und mit Sicherheit ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung 😃