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petra koller stern 1
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Zwischen Mutterliebe und
Erziehungsburnout

Loslassen

Es klingt immer so einfach. Einfach loslassen. Wenn es bloß so einfach wäre.

Tagelang habe ich mir den Kopf über das Fahrtentraining zerbrochen. War nervös. Dachte an alles was hätte schief gehen können. Dachte an die Panikanfälle, die Patrik in der Vergangenheit hatte, wenn er überfordert war oder etwas aus Angst nicht machen wollte. Das wiederum machte mir Angst und es beschäftigte mich.

Gedankenkino

Ich hatte Angst davor, dass er zuhause wieder so einen Anfall bekommen würde, wie damals vorm Flug nach Griechenland. Es hätte aber auch sein können, dass er in der Öffentlichkeit plötzlich eine Szene macht. Ehrlich gesagt, ist das noch nie passiert. Bis dato hatte er Panikattacken oder Aggressionsanfälle mit mir nur zuhause. Aber da es in der Einsteigergruppe derartige Vorfälle gab und auch damals beim Schnuppern in der Seestadt, kam es mir in den Sinn und wollte mich nicht mehr loslassen.

Einsteiger*innengruppe

Vielleicht kennt ihr das auch: Wenn ein Gedanke sich einmal im Kopf breit gemacht hat, ist er nicht mehr so schnell loszuwerden. Oftmals nicht mal mit guten, fundierten Argumenten oder Fakten. Im schlimmsten Fall wandeln sich solche Gedanken sogar zu Glaubenssätzen und bleiben im worst case für immer. Sehr leicht finden sich dann immer wieder Situationen, die den gefestigten Glauben bestätigen und uns vorgaukeln, dass es sich um Fakten handelt. Da sich der Fokus durch den Glaubenssatz verschiebt, ist es ein Leichtes immer wieder in Situationen zu kommen, die diesen Glauben bestätigen.

mein Bild von PATMAN

So ist es auch mir sehr lange gegangen. Ich hatte ein fixes Bild von meinem PATMAN. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Situationen, die mir bewiesen haben, dass er meine Hilfe braucht. Situationen, die mir zeigten, dass ich für ihn kämpfen muss. Zumindest dachte ich das. Und ganz sicher war es eine sehr lange Zeit auch so. Sein Start ins Leben war ja kein leichter. Und auch die Schulzeit hat ihn immer wieder gefordert. In vielen Situationen war es daher tatsächlich nötig, dass ich für Patrik eingestanden bin und seine Rechte eingefordert habe.

Da er auch immer noch wenig spricht und viele Fragen unbeantwortet lässt, hatte ich mir irgendwann angewöhnt für ihn zu antworten. Unter anderem auch weil ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin und es meist nicht ausgehalten habe, bis er endlich Worte findet. Ich habe in der Vergangenheit daher vieles für ihn entschieden. Bei einigen Entscheidungen handelte es sich um schwerwiegende, zukunftsprägende Dinge. Da war es selbstverständlich erforderlich, das ich entscheide. Aber zugegebenermaßen stellte ich mir in den letzten Wochen die Frage, wie oft ich etwas für ihn entschieden hatte, was er vielleicht schon selbst entscheiden hätte können.

Essen & Einkaufen

on the way

Es handelte sich hierbei um Kleinigkeiten. Zum Beispiel habe ich, ohne es zu hinterfragen, immer dieselben Nahrungsmittel für ihn zu essen gekauft, nur weil er sie eine Zeit lang gerne gegessen hat. Ich habe das nie hinterfragt, sondern immer so lange dieselben Speisen gekocht und vorbereitet bis er sie ein paar Mal hintereinander einfach unangetastet übriggelassen hat. Er hat es aber auch nie reklamiert und so war ich immer sicher, dass ich weiß, was ihm schmeckt und was er möchte.

Vor zwei Wochen dann waren wir durch Zufall das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder mal zusammen einkaufen. Es hatte sich einfach so ergeben. Dieses Erlebnis hat mich mehr als erstaunt. Mein PATMAN hat vollkommen selbständig Dinge eingekauft, die er zuvor nie oder schon lange nicht mehr gegessen hat. Er legte die ausgesuchten Waren wortlos in den Einkaufswagen. Eines nach dem Anderen. Immer wieder verschwand er in andere Gänge des Ladens und kam mit etwas Neuem zurück. Ich war verblüfft. Bei der Kassa dann legte er die Waren einfach wortlos aufs Förderband und wartete, dass ich alles bezahlte.

Etwa eine Woche später hatten wir ein ähnliches Erlebnis, wieder beim Einkaufen. Diesmal hatte ich das gemeinsame Einkaufen geplant. Als wir danach zuhause ankamen und ich mit meinem Kaffee in meinem Ohrensessel saß, ließ ich die gemeinsame Zeit im Laden gedanklich Revue passieren. Mein PATMAN war in diesem Geschäft so selbstbestimmt und gelassen. Er wirkte das erste Mal so souverän auf mich. Ich bin ziemlich sicher, dass in diesem Geschäft niemand vermutet hätte, dass er anders als andere Achtzehnjährige ist.

Selbständigkeit

Ich war verblüfft und ich begann nach diesem Ereignis im Alltag mit Patrik achtsamer zu sein. So fiel mir zum Beispiel auf, dass er plötzlich morgens, wenn der Wecker läutete, vollkommen selbständig aufstand sich anzog und ins Wohnzimmer kam, um auf mich zu warten. Diese Woche passierte dann zusätzlich etwas außergewöhnliches: Als er ins Wohnzimmer kam, war ich nicht da und er konnte mich nicht finden. So schrieb er mir per whatsapp: „Was jetzt – du bist nicht da. Ich sitze und warte. Soll ich mich krankschreiben, oder was?“ Hammer! Er weiß, dass ich ihn täglich zur Arbeit bringe und ist scheinbar davon ausgegangen, dass ich das an diesem Tag nicht machen würde. Und er dachte daran, dass er sich dann krankmelden müsste.

Auch abends ist er mittlerweile sehr selbständig. Er hat immer noch kein gutes Zeitgefühl. Aber wenn ich ihm den Wecker stelle, dann geht er nach dem Läuten des Weckers nach oben, zieht sich seinen Pyjama an und geht ins Bett. Zuvor dreht er noch alle Lichter ab und lässt die Außenjalousien herunter. Da das so gut funktioniert, kann er mittlerweile auch schon ein ganzes Wochenende alleine zuhause bleiben. Er schafft also zwei Nächte mit Luna alleine. Ich stelle ihm hierfür den Wecker fürs Aufstehen, fürs Schlafen gehen und um 15.30h läutet der Wecker, um Patrik daran zu erinnern, dass er Luna füttern muss. Wenn sie raus muss, dann zappelt sie vor der Terrassentür und winselt ein bisschen. Dann läßt er sie in den Garten.

Erkenntnis

Tatsächlich musste ich mich daher in den letzten Wochen damit auseinandersetzen, dass sich mein PATMAN verändert hat. Das fixe Bild, dass ich von ihm abgespeichert hatte, ist nicht mehr korrekt. Ich kann jetzt nicht mehr genau sagen, wann das genau passiert ist, dass er erwachsen geworden ist. Aber es ist passiert. Die Veränderung ist wohl schleichend vor sich gegangen und ich war aus ewiger Zeitnot heraus so in meinen Routinen gefangen, dass es mir lange nicht aufgefallen ist. Seine kognitive Retardierung hat mich in diesem Punkt wohl geblendet. Und so übersah ich völlig, dass er zwar gewisse Dinge immer noch nicht kann, wie gleichaltrige gesunde Jugendliche, aber dennoch erwachsen geworden ist.

PATMAN ist ein Mann

Ich sah in ihm bis vor kurzem immer noch das kleine Frühchen, dass sich mit vielem schwer tut. Er war lange mein kleines Baby, dass immer benachteiligt war und Hilfe brauchte, das Schulkind, das gemobbt wurde und ständig krank war. Und bei meinem ständigen Bestreben ihn bestmöglich zu beschützen und zu unterstützen, übersah ich völlig, dass er es in vielen Bereichen gar nicht mehr benötigte. Ich musste also dieses Bild von meinem armen, hilflosen Kleinen loslassen. Ich musste ihn loslassen. Und was mich dabei am meisten geflasht hat, war die Tatsache, dass mir das Bild, das ich scheinbar von ihm hatte, so lange nicht mal bewusst war.

Der Zeitpunkt als Patrik erwachsen und ihn seinem Rahmen selbst bestimmt wurde, wäre beinah an mir vorüber gegangen. Und jetzt da mir die Veränderung bewusst geworden ist, muss ich ihn loslassen. Mein Baby ist kein Baby mehr. In manchen Dingen braucht er meine Unterstützung als seine Erwachsenenvertretung, aber er ist kein Baby mehr, nicht mal mehr ein Kind. Mein PATMAN ist jetzt ein Mann.