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petra koller stern 1
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Zwischen Mutterliebe und
Erziehungsburnout

Ein dunkles Erlebnis überschattet unser Leben

Vor 19 Jahren brachte ich Philips Bruder Christoph tot zur Welt. 19 Jahre … unfassbar … Nach all den Jahren denke ich nicht mehr täglich daran, aber an Christophs Geburtstag ist die Erinnerung immer wieder da. An diesem Tag ist nicht nur ein Kind gestorben, sondern auch Wünsche, Träume und Pläne … wobei gestorben ist er eigentlich schon vor der „Geburt“, unbemerkt in meinem Bauch. 

Wie gesagt, als ich Christoph zur Welt brachte, war er bereits tot. Er war in etwa eine Woche zuvor in meinem Bauch verhungert. Es ist so paradox, da das Essen in unserer Familie irgendwie immer ein Thema zu sein scheint. Seit ich denken kann, hatte meine Mutter eine Diät nach der Anderen gemacht und sobald ich in die Pubertät kam, hatte ich das Gefühl ich müsste nun auch ständig auf Diät sein. Bloß nicht zu viel Essen, obwohl wir Essen alle lieben in unserer Familie. Und dann verhungert dein Kind …

Auch in der Schwangerschaft mit Philip wurde ich von meinem Umfeld ständig gefragt, wieviel ich schon zugenommen hätte. Ist unsere Gesellschaft nicht verrückt???  Du trägst ein neues Leben unter deinem Herzen und es ist wichtig, ob du zunimmst?! Wichtiger ist doch tatsächlich ob das Kind zunimmt! Ob es sich gut entwickelt und wächst. Bei Christoph war dies wohl schon länger nicht mehr so gewesen.

Christophs Geburt

Als ich ihn in der 26. Schwangerschaftswoche zur Welt brachte, entsprachen sein Gewicht und seine Größe nicht den üblichen Werten, sondern er wog nur 430g und hatte eine Körperlänge von 26cm. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, dass seine Haut lila-bläulich war und sein Kopf im Verhältnis zum restlichen Körper zu groß schien. Die Ärzte legten ihn auf meine Brust, damit ich mich verabschieden konnte, und deckten ihn zu, sodass nur sein Köpfchen herausblickte. Die Zeit schien still zu stehen … aber nach einer Weile wurde er schön langsam immer kälter und es wurde mir bewusst, dass kein Leben mehr in diesem Körper war. Mein Sohn war von mir gegangen, schon lange zuvor, aber er würde nicht zurück kommen.

Zum Verhältnis zwischen Kopf und Körper sagten die Ärzte, dass das normal wäre, da das Längenwachstum erst später voranschreitet und er an und für sich gesund gewesen wäre. Sie konnten keine Auffälligkeiten finden. Er war „nur“ zu klein für die Schwangerschaftswoche, woraus sie schlossen, dass er wohl bald nach der letzten Untersuchung nicht mehr gut versorgt war. Die Plazenta war vermutlich schlecht durchblutet und hörte irgendwann zwischen der letzten Untersuchung und seiner „Geburt“ auf zu arbeiten. So verhungerte er langsam in meinem Bauch, vollkommen unbemerkt. Ein schrecklicher Tod.

Fehlgeburt versus Totgeburt

Alles was mir von 
Christoph blieb: ein Bild, seine Spieluhr, sein Mutter-Kind-Pass mit den Ultraschall-Bildern und Geschenke, die wir bereits erhalten hatten.
Alles was mir von Christoph blieb: ein Bild, seine Spieluhr, sein Mutter-Kind-Pass und Geschenke, die wir bekommen hatten.

Sein offizieller Gedenktag ist streng genommen weder sein „Geburtstag“, denn er hat ja nie das Licht der Welt erblickt, noch sein Todestag, denn den kenne ich nicht. Ich vermute er war irgendwann zwischen Mitte und Ende Jänner. Begraben wurde er auch nicht, sondern mit dem Spitalsmüll entsorgt, was mich sehr lang belastet hat. Da er nie gelebt hat, gibt es weder eine Geburts-  noch eine Sterbeurkunde. Alles was mir von ihm blieb, habe ich in einer Schachtel aufgehoben: ein Bild, seine Spieluhr, sein Mutter-Kind-Pass mit den Ultraschall-Bildern und Geschenke, die wir bereits erhalten hatten.

Als ich Christoph zur Welt brachte, galt ein totes Baby mit einem Gewicht unter 500 g als Fehlgeburt, unerheblich in welcher Schwangerschaftswoche es zum Tod kam. Das kam mir falsch vor, daher spreche ich nach wie vor von einer Totgeburt – immerhin brachte ich ihn tot zur Welt. Eine Fehlgeburt kann ich auch in den ersten 12 Wochen haben, da schlägt das Herz vielleicht noch gar nicht und der Fötus sieht noch nicht mal aus wie ein Baby. Mein Christoph war aber 25 Wochen und 4 Tage in meinem Bauch, mehr als die Häfte einer normalen Schwangerschaft. Zum Vergleich: Patrik war nur 2 Wochen länger in meinem Bauch (27 Wochen und 4 Tage) … unfassbar. 

Wie gesagt, mit Christoph ist nicht nur ein Baby gestorben, sondern für den Moment auch eine Menge Wünsche, Träume und meine Sehnsucht nach der heilen Familie, die ich mir immer gewünscht hatte. Es heißt, es hat alles einen Grund und einen Sinn. Da muss ich zustimmen. Diese Erfahrung hat mich viel gelehrt, wenn auch sehr schmerzhaft. So ein Erlebnis verändert im Grunde alles und auch wenn ich meinen Frieden damit geschlossen habe, so bleibt Christoph dennoch auf ewig unvergessen.

Die Zeit danach

Zu Beginn waren alle in meinem Umfeld sehr betroffen und versuchten meinen Mann und mich zu unterstützen. Philip verstand es am allerwenigsten. Er war ja erst zwei Jahre alt. Wir hatten während der Schwangerschaft abends immer Christophs Spieluhr auf meinen Bauch gelegt, damit Christoph wusste, dass nun Schlafenszeit war. Ich wollte ihn bereits an einen Rhythmus gewöhnen und Philip damit auf seinen Bruder vorbereiten. Dann las ich den beiden eine Geschichte vor und brachte Philip ins Bett. Davor bekam Christoph zum Abschied immer einen Gute-Nacht-Kuss von seinem Bruder. Als Philip dass erste Mal nach der Totgeburt meinen Bauch küsste und „Christoph“ sagte, brach es mir das Herz. Obwohl ich ihm erklärt hatte, dass sein Bruder jetzt nicht mehr in meinem Bauch war, sondern ein Engel wäre und im Himmel leben würde, streichelte er immer wieder meinen Bauch und gab ihm Küsschen. Das war so herzzerreissend.

Als der Sommer kam, versuchte Philip beim Schaukeln immer möglichst hoch zu schaukeln um seinem Bruder nah zu sein. Er sagte dann: „Mama, ich schaukel bis zu Christoph.“ Ich hatte gelesen, dass es wichtig sei das Thema nicht zu tabusieren, sondern Philip kindgerecht zu erklären dass sein Bruder gestorben wäre. Daher versuchte ich ihm das keinesfalls auszureden.

Es muss weiter gehen

Es war wirklich eine sehr schwere Zeit, aber da ich für Philip da sein wollte, konnte ich mich nicht in Selbstmitleid suhlen und da es nun keinen Grund für eine Karenzzeit gab, musste ich auch wieder arbeiten gehen. Philip musste daher – anders als ursprünglich geplant – bereits mit 2,5 Jahren in den Kindergarten gehen.

Auf den bürokratischen Ärger mit Ämtern und meinem Dienstgeber gehe ich jetzt nicht näher ein – es sei nur so viel gesagt: Verständnis braucht man sich in so einer Situation nicht erwarten! Nirgendst und von niemandem. Im Gegenteil ICH hätte Verständnis haben sollen, dass es jetzt nicht spontan einen freien Platz in einem Kindergarten gäbe und dass ich nicht einfach eine Teilzeitstelle im Unternehmen haben könne, wenn ich doch eigentlich Karenzurlaub wollte. AH JA. War ja auch mein freier Wille, dass mein Kind nicht lebendig zur Welt kam – SARKASMUS OFF.

Wie üblich hat sich allerdings auch das aufgelöst. Wir fanden allmählich wieder in eine Art Alltag und begannen mit der Kindergarteneingewöhnung. Mein Tagesablauf war ab sofort folgender: Ich brachte Philip in den Kindergarten, welcher sich dort rascher eingewöhnte als mir lieb war, und dann fuhr ich zu meiner besten Freundin um dort so lange zu heulen bis ich gefühlt keine Tränen mehr hatte. Dann holte ich Philip wieder ab und verbrachte mit ihm den Nachmittag bis sein Papa wieder von der Arbeit nachhause kam. So ging das etwa einen Monat, dann musste ich wieder arbeiten. 

Ein Bruder für Philip

Mein Sohn Christoph war tot. Völlig unerwartet hatte sich unser Leben quasi über Nacht vollkommen verändert. Alles was geplant war und worauf wir uns gefreut hatten, plötzlich nicht mehr da. Vieles bekam dadurch eine andere Bedeutung. Ich genoss jede Sekunde mit Philip und vermisste ihn um so mehr, wenn ich arbeiten musste. Christoph war tot und würde nie mehr zurück kommen, aber der Wunsch nach einem zweiten Kind, der lebte weiter. Unser Wunsch, dass Philip nicht alleine sondern mit einem Geschwisterchen aufwachsen sollte, der war allgegenwärtig. Und so war ich cirka 14 Monate nach diesem fürchterlichen Schicksalsschlag wieder schwanger. 

Das erste Schwangerschaftsdrittel war voller Hoffnung und Freude und ich versuchte die Schwangerschaft zu geniessen, aber je näher die 25. Schwangerschaftswoche kam, desto größer wurde die Angst in mir, dass wieder etwas Unvorhergesehenes passieren würde und das tat es ja auch, wie ich euch bereits im allerersten Blog-Beitrag „Wie alles begann“ erzählte. Deshalb bin ich fest der Meinung, dass Christophs Tod nötig war, damit Patrik gesund auf die Welt kommen konnte.

Und immer war die Angst dabei

Heute, fast zwei Jahrzehnte nach Christophs Tod, bin ich sicher, dass die Angst mich auch in der Erziehung von Patrik stark beeinflusst hat. Auch wenn ich immer versucht habe alles richtig zu machen und auf meinen Bauch zu hören, so war es doch extrem schwierig völlig unbefangen zu sein. Nicht nur aufgrund der Erfahrung mit Christophs Tod, sondern auch weil Patrik viel zu früh, zu klein und nicht ganz ausgereift zur Welt kam, war es beinah unmöglich unbeirrt und gänzlich zuversichtlich unseren Weg zu gehen. Ständig wurde unsere Zuversicht zusätzlich von Ärzten und Therapeuten mit Bedenken und Zweifeln torpediert. Alles in allem nicht so einfach und das hat Patrik sicher auch gespürt.

Allerdings ist die Zeit rückblickend wie im Flug vergangen und mein PatMan wird im Herbst bereits 18 Jahre alt! Unglaublich! Ich weiß noch, dass er nach der Geburt genau so lang war wie mein linker Unterarm und jetzt trägt er Schuhe die größer sind. Es ist erstaunlich was er in seinem bisherigen Leben alles erlebt und gemeistert hat. Ich bin extrem stolz auf ihn und wie toll er sich trotz all der Schicksalsschläge entwickelt hat. Sein Geburtstagsfest wird etwas ganz besonderes werden.